Race Across Italy 775 – La dolce vita dell Ultracycling – oder von Bären und Brunnen

Regentag beim Familyurlaub in Finale Ligure. Das perfekte Setting, um in Erinnerungen ans Race Across Italy vor zwei Wochen zu schwelgen und den ein oder anderen Gedanken in meinem digitalen Gedächtnis (aka Blog) zu archivieren.

In meinem letzten Blogpost habe ich bereits etwas über das Rennen, die Strecke, die Anreise und die Vorbereitung geschrieben. Heute soll der Fokus auf den Erlebnissen in Italien vor, während und nach dem Rennen liegen.

Für alle, die es kurz und knackig mögen: super Veranstalter, geniale Landschaft, Finish in Wunschzeit, Tapetenwechsel für die Seele und das alles auch noch garniert mit dem ersten Platz in der Unsupported-Kategorie…. Was will man(n) mehr 🙂

Für alle, die sich ganz im Spirit des Ultracycling etwas länger mit dem Thema beschäftigen möchten, und auch die ein oder andere Challenge auf dem Weg zum Ziel im Geiste nacherleben möchten: einfach weiterlesen. Mein Bericht wird in der klassisch italienischen Gangfolge serviert.

Aperitivo – Die Anreise

Am Mittwochabend ist es soweit. Mein Vater und ich kommen nach einem langen Tag im Auto in Silvi an. Das Hotel liegt wenige Meter entfernt vom Strand und von der Dachterrasse kann man nicht nur das Meer sehen, sondern auch die Seeluft riechen.

Nach langen Monaten, in denen weder Sportevents noch private Urlaube uns weit von zu Hause weggeführt haben, ist der Tapetenwechsel reinster Balsam für die Seele. Vor dem Abendessen geht es also erst einmal zum Spazieren an den Strand und wir saugen die ersten Eindrücke von Italien tief in uns auf. Im Hotel zurück, rundet die typische italienische Gangfolge aus Primi, Secondi und Dolce den Tag ab.

Antipasto – Letzte Vorbereitungen

Der Freitag startet mit einem ausführlichen Frühstück am Hotelbuffet. Da ich weiß, dass es sich um die letzte „normale“ Mahlzeit vor dem Rennen handelt, genieße ich die reichhaltige Mischung aus Prosciutto e Melone, Croissants und diversen italienischen Kuchen ganz besonders.

Danach geht es zum Veranstaltungsgelände, um den obligatorischen COVID-19 Test zu absolvieren, dessen negatives Ergebnis für die kommenden Tage meine „Starterlaubnis“ für das Rennen und für meinen Vater und mich auch die „Eintrittskarte“ zum Start-/Zielbereich sind.

Ab jetzt sind wir Teil der Bubble, die uns z.B. auch auf eine der drei akkreditierten Unterkünfte festgelegt hat.

Zurück im Hotel angekommen, bereite ich ganz in Ruhe mein Equipment für das Rennen vor.

Dafür wird mein ORBEA Orca mit allerhand hochkalorischem von Sponser in flüssiger und pulvriger Form beladen und die Elektronen in den Akkus der diversen elektronischen Bauteile wie Schaltung, Beleuchtung und Wattmesspedale werden analog zu mir nochmal bis zum Anschlag unter Vorspannung gesetzt. Dazu kommen noch diverse Ersatzteile und ein Papierstapel mit Sondergenehmigungen des Veranstalters und des Nationalen Italienischen Olympischen Komitees (CONI) in die Apidura Taschen.

Danach mache ich mich auf den Weg, um das komplett montierte Setup einer letzten Probefahrt zu unterziehen und auch die Beine mit einer kleinen Vorbelastung an ihre Aufgabe für die kommenden Tage zu erinnern.

Ich starte vom Hotel weg und genieße die sommerlichen Temperaturen in kurz/kurz. Doch keine zwei Kilometer später hat der Spaß ein jähes Ende. Es gibt plötzlich einen lauten Knall und mein vorderer Reifen ist beim Einfahren in einen Kreisverkehr von einer Sekunde auf die andere komplett leer.

Ich kann zum Glück ohne Sturz zum Stehen kommen und bin völlig perplex, da ich tubeless fahre und bei einem Reifenplatzer erwartet hätte, dass die Dichtmilch nur so aus dem Reifen spritzt. Aber überhaupt nichts zu sehen. Während ich am Straßenrand stehe und den Mantel nach einem Defekt untersuche, lässt es schon den zweiten Schlag und der Hinterreifen ist auch leer. Unfassbar…das Material von Wolfpack ist eigentlich über jeden Zweifel erhaben, aber haben die Tubeless-Prototypen des Wolfpack Cotton von Wolfgang Arenz evtl. doch noch Kinderkrankheiten? Als ich am Hinterreifen die Dichtmilch an einem Speichennippel austreten sehe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen… in grenzdebiler Naivität bin bei der Montage der Mäntel davon ausgegangen, dass die Laufräder am Rennrad bereits für tubeless vorbereitet sind. Ein fataler Irrtum. Durch den heißen Asphalt hat sich der Druck im Reifen wohl nochmals etwas erhöht und das ungeeignete Felgenband hat an den Speichenlöchern aufgegeben. Kurz überlege ich direkt zwei Schläuche einzuziehen. Die Sauerei mit der Dichtmilch und die kurze Entfernung zum Hotel bringen mich aber auf die Idee, einfach zurück zu laufen. Da ich mir dir Plastikschuhplatten an den Rennradschuhen auf den ca. 1,5km nicht auch noch kaputt machen möchte, entschließe ich mich kurzerhand die Schuhe auszuziehen und sockig zurück zu schieben. Wie sich kurz vor dem Hotel herausstellt leider mein zweiter fataler Irrtum, denn die Füße fangen schmerzhaft an zu brennen. Der Asphalt ist mit der Sonne im Zenit so heiß, dass die Haut auf der Fußsohle mir den Spaziergang übelnimmt und sich eine jeweils 5-DM-große Brandblase an den Ballen bildet… ein Traum. Die restlichen paar Meter ziehe ich schnell die Schuhe wieder an. Im Hotel angekommen halte ich meine Füße erst einmal mehrere Minuten unter kaltes Wasser, aber der Schaden ist leider schon angerichtet. Frust pur… ich könnte mir mit Anlauf in den Allerwertesten beißen. So wie die Füße gerade schmerzen, könnte das bereits das Aus noch vor dem Start des Rennens bedeuten. Ich atme ein paar Mal tief durch, trage eine dicke Schicht Bepanthen auf, und baue mein Laufradsetup wieder auf ein klassisches Schlauchsetup mit Schwalbes Aerothan zurück. Die Kenner unter euch werden sich vielleicht schon gefragt haben, warum die Wolfpack Cotton einen Tag vor dem Rennen noch eine schwarze Flanke zur Schau stellen und auf den Rennbildern dann plötzlich wieder Skinwall-Optik zeigen – jetzt wisst ihr Bescheid ;-).

Danach kann ich meine Testfahrt endlich wirklich starten und fahre die ersten Kilometer der Rennstrecke an der Küste entlang ab, um mich noch etwas an die Temperatur zu gewöhnen. Die Fußsohlen brennen sehr unangenehm. Aber da die Füße in den Rennradschuhen keinen Millimeter hin und her rutschen, entsteht zumindest keine weitere Reibung/Verschlimmerung der Blasen. Und der Druckschmerz ist noch im Rahmen des erträglichen. So hoffe ich einfach auf eine Besserung über Nacht, blende die negativen Gedanken zu der vermeidbaren Aktion aus und fokussiere mich wieder auf den Rest der Vorbereitung.

Abendessen und Frühstück kann ich das Dolce Vita im Hotel leider nicht mehr in vollen Zügen genießen, sondern opfere den Genuss zu Lasten einer perfekten Vorbereitung. Während mein Vater nochmals die italienische Küche genießt, sitze ich mit Brei und Flüssignahrung daneben, um den Magendarmtrakt schon einmal in Rennstimmung zu versetzen.

Am Abend geht es früh ins Bett, um noch etwas Schlaf zu bunkern, da meine Rennplanung für die kommende Nacht keine Pausen vorsieht.

Primo Piatto – Das Rennen Phase 1

Freitagmorgen um 09:56Uhr ist es endlich so weit, und ich rolle von der Startrampe des Race Across Italy. Im Startbereich ist auch schon gute Stimmung, da die erste Starterin bereits um 09:00Uhr auf die Strecke geschickt wurde, und nach mir im Zweiminutentakt noch Fahrer bis 11:28Uhr folgen.

Die ersten Kilometer geht es flach auf der Küstenstraße gen Norden und ich mache es mir auf meinen Aerobars bequem. Wie üblich muss ich mich ziemlich bremsen, um dem Rennfieber nicht zu erliegen, und viel zu schnell los zu preschen. Nur ein regelmäßiger Blick auf die Wattanzeige meines Powermeters kann schlimmeres verhindern 😉

Nach ca. 25 Kilometern biegt die Route gen Westen ab und führt dann, nur von kurzen Abfahrten unterbrochen, von Normalnull zum höchsten Punkt der Strecke auf 1.634m.

Das Wetter ist super, die Beine sind noch frisch, die Sicht auf die Berge ist berauschend und ich kann bereits auf der Auffahrt etliche andere Starter*innen einsammeln.

Hier ist auch dieses Video mit kurzen Interviewsequenzen entstanden, in dem ich bei Minute 2:49 zu sehen bin.

Ich bin das erste Mal in dieser Gegend unterwegs und muss schon nach dem ersten Pass uneingeschränkt konstatieren, dass die Abruzzen landschaftlich ein echter Leckerbissen sind, die die Reise auf jeden Fall wert sind. Bewaldete Abschnitte wechseln sich mit kargen Steinfeldern und saftigen Wiesen ab und die schneebedeckten Gipfel geben der Szenerie einen alpinen Touch.

So geht es den Tag über immer wieder auf und ab und unaufhaltsam in Richtung der ersten Timestation, die bei Streckenkilometer 213 in Gioia dei Marsi auf die Starter wartet. Zum Glück sind die Brandblasen an den Ballen nur die ersten drei Stunden zu spüren und werden dann taub, so dass ich dadurch nicht wirklich eingeschränkt bin. Auf den letzten Kilometern vor der Timestation kann ich noch einige weitere Fahrer der Unsupported-Kategorie überholen. Den Überblick über meine aktuelle Position im Feld habe ich zu diesem Zeitpunkt allerdings gänzlich verloren und erst bei der Ankunft an Timestation 1 werde ich vom Veranstalter aufgeklärt, dass ich mich auf die erste Position vorarbeiten konnte. Das motiviert ungemein und ich halte den Stopp so kurz wie möglich, um keine Zeit zu verlieren. Die drei Timestations an der Strecke sind zum einen Kontrollpunkte des Veranstalters, an denen zu langsame Fahrer aus dem Rennen genommen werden können, als auch Verpflegungspunkte für die Fahrer der Unsupported-Kategorie, die wie ich ohne Begleitfahrzeug unterwegs sind. Hierbei kann man entweder auf das Nahrungsangebot des Veranstalters zurückgreifen, oder auf den Inhalt eines Turnbeutels, den man vor dem Start abgeben konnte. Ich entscheide mich für die Turnbeuteloption, da ich so auf meine gewohnten und bewährten Gels und Getränkepulver von Sponser zugreifen kann und meine Vorräte in den Apidura Bikepackingtaschen wieder auffülle. Zwischen den Timestations bin ich mit dieser Taktik nur auf Wassernachschub aus öffentlichen Brunnen angewiesen, da ich die komplette Energiezufuhr über Pulver in den Flaschen bzw. die Gels abdecken kann. Auch wenn das kein kulinarischer Genuss ist, so kann ich damit relativ problemlos die maximal aufnehmbaren 60-80g Kohlenhydrate pro Stunde zuführen. Der darüberhinausgehende Energiebedarf wird aus dem limitierten Muskel- und Leberglykogenspeichern bzw. aus den praktisch unerschöpflichen Fettdepots gedeckt, die im Feuer der Kohlenhydrate verheizt werden. 😉

So geht es gut gestimmt in den Abend und direkt nach der Timestation wieder stramm bergauf zu den nächsten beiden Gipfeln der Route, die bei Kilometer 230 und 253 der Strecke auf ca. 1.400 bzw. 1.500 Meter über Normalnull auf die Fahrer warten.

Secondo Piatto – Das Rennen Phase 2

Eines der Highlights jeder Ultracyclingfahrt sind die Übergänge zwischen Tag und Nacht und vice versa. Auch heute taucht die Abendsonne die einsamen Straßen und umliegenden Gipfel und Bergdörfer in ein bezauberndes Licht, und ich kann die Fahrt trotz der körperlichen Anstrengung wirklich genießen. Das einzige, was mich dann doch etwas verunsichert sind diese Schilder, die regelmäßig neben der Straße auftauchen:

Diese sollen zwar den Bär vor schnellen Autos schützen und nicht den Mensch vor dem Bär. Aber es wird mir, bei dem Gedanken mitten in der Nacht (ohne Auto) auf einen ausgewachsenen Bären zu treffen, doch etwas mulmig.

Ich kann mich erinnern, dass man je nach Bärenart die Flucht ergreifen, oder stehen bleiben soll. Nur zu dumm, dass ich zum einen nicht mehr weiß welche Taktik bei welcher Sorte erfolgsversprechend ist, und zum anderen auch nicht, welcher Bär sich hier in der Gegend heimisch fühlt. Da es sich um ein Rennen handelt, entscheide ich mich intuitiv dafür im Fall der Fälle ein paar Watt mehr aufs Pedal zu bringen. 😉

Die nächsten Stunden passiert nicht viel. Ich spule Kilometer für Kilometer ab und komme irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit auch zur zweiten Timestation in Minturno. Eigentlich wollte ich mir hier aus dem abgegebenen Turnbeutel auch noch ein Langarmtrikot schnappen. Doch die aktuellen Temperaturen führen mich zur Einschätzung, dass ich auch mit den mitgeführten Armlingen, Beinlingen und Windweste gut für die restliche Nacht gerüstet bin. Was ich bei meiner Prognose leider außer Acht lasse ist die Tatsache, dass ich mich momentan knapp über Meereshöhe befinde und im Verlauf der Nacht noch Anstiege bis auf knapp 1.300m folgen. In den kommenden Passabfahrten verfluche ich bibbernd meine Entscheidung. Der einzige Vorteil ist, dass ich mich so immer wieder auf den nächsten Anstieg freue…

Eine weitere Herausforderung der Nacht wird die Versorgungslage. Irgendwann sind meine beiden Trinkflaschen wieder aufgebraucht und ich halte die Augen nach Nachschub offen. Doch zum einen herrscht nächtliche Ausgangssperre und Shoppen ist somit keine Option, zum anderen sehe ich in den kommenden Ortschaften nirgends einen Brunnen. Anfangs bin ich noch entspannt, doch irgendwann fange ich sogar an die Deckel der Trinkflaschen abzuschrauben, um auch die letzten Tropfen Flüssigkeit herauszusaugen. Im Gegenzug den Gelkonsum hoch zu regeln ist aus mehreren Gründen keine gute Idee: begrenzte Stückzahl, Kohlenhydratüberdosis, falsches Konzentrationsgefälle im Magen (Osmotischer Druck) sind nur einige der Faktoren, die dagegensprechen. Und so mache ich drei Kreuze, als irgendwann doch endlich ein Brunnen am Wegesrand auftaucht. Eine der gefüllten Flaschen trinke ich gleich wieder halb leer, bevor es frisch beladen weitergeht.

Und auch die Schaltung scheint etwas dehydriert, da immer wieder die Kette auf der Kassette hin und her springt. Eigentlich lässt sich die SRAM eTap AXS superkomfortabel direkt während der Fahrt am Schalthebel feinjustieren. Aber jedes Mal nachdem ich nachjustiert habe, fangen kurz danach die automatischen Gangwechsel wieder von vorne an. Im Dunkel kann ich die Ursache auch bei einem kurzen Stopp nicht lokalisieren, aber da das Problem immer schlimmer wird, nehme ich mir für die Ursachenforschung doch nochmals länger Zeit und bringe dazu auch die eingepackte Stirnlampe zum Einsatz. Wie sich herausstellt eine gute Idee, denn das Problem wird dadurch verursacht, dass die Schraube, die das Schaltwerk mit dem Schaltauge verbindet, locker geworden ist. Also schnell die Schraube eine paar Umdrehungen weiter ins Gewinde gedreht und die Schaltung flutscht wieder wie am ersten Tag. Das bleibt auf der gesamten Strecke zum Glück die einzige technische Herausforderung. Auch das Schlauchsetup mit den Wolfpack Cotton Mänteln läuft trotz streckenweise extrem schlechtem Fahrbahnbelag ohne einen einzigen Platten vom Start bis ins Ziel.

Damit es in der Nacht nicht zu langweilig wird und die Müdigkeit einen packt, hat der Veranstalter aufgrund eines Erdrutsches noch kurzfristig eine Umfahrung als separaten GPS-Track fürs Navi verteilt. Um diese nicht zu verpassen, sollte man also den Kilometerstand gut im Blick behalten, um zum richtigen Zeitpunkt vom Originaltrack auf die Umfahrung zu wechseln. Dass man auch solche Dinge in der Unsupported-Kategorie selbst im Blick behalten muss, macht diese Kategorie zusätzlich zum autarken Equipment- und Verpflegungsmanagement für mich besonders reizvoll. Auch wenn ein Begleitfahrzeug bei einer Bärensichtung unbestreitbare Vorteile hat. 😉

Die schnellsten beiden Fahrer der Supported-Kategorie schließen in der Nacht bzw. im Morgengrauen zu mir auf und ziehen dann auch an mir vorbei. Als ich im ersten Moment in Blickweite den Anschluss halten möchte, merke ich vor allem in den Anstiegen mein zusätzliches Gewicht und lasse sie lieber fahren, um nicht zu überziehen. Außerdem weiß ich zumindest von Rainer Steinberger – dem späteren Sieger – dass er auf absolutem Topniveau unterwegs ist und das Rennen auch in der Vergangenheit in der Supported-Kategorie schon für sich entscheiden konnte.

Dolce – Das Rennen Phase 3 und Finish

So geht es in den Morgen. Das Wetter zeigt sich nochmals von seiner besten Seite und die ersten Sonnenstrahlen bringen neue Lebensgeister und auch paar Grad Celsius in die klamme Muskulatur.

So nutze ich den kurzen Stopp an der dritten und letzten Timestation auch, um eine neue Schicht Sonnencreme aufzutragen und die Beinlinge wieder in der Apidura Saddle Pack zu verstauen. Ab hier sind es jetzt „nur“ noch stark 200km bis ins Ziel, und ich habe meinen Vorsprung auf den Zweitplatzierten in der Zwischenzeit auf 2-3h weiter ausgebaut. Auf der einen Seite ein beruhigendes Gefühl, da damit sogar genug Zeit bleibt, um eine potenziell auftretende größere Panne zu kompensieren. Auf der anderen Seite aber schwierig für die Motivation, da ein veritabler Vorsprung natürlich dazu verleitet etwas den Zug von der Kette zu nehmen. Ein paar Kilometer nach der Timestation kommt passenderweise eine der längsten Abfahrten des Rennens, die einem mit mehr als 1.000 Höhenmetern bergab sowieso Zeit zur Erholung gibt. Motivierend ist auch, dass in der Abfahrt wieder ein Medienfahrzeug des Veranstalters auftaucht und eine schöne Sequenz von mir aufnimmt. Da kommt man sich als Hobbysportler gleich vor wie ein waschechter Vollprofi und es fällt leichter wieder etwas mehr Gummi zu geben. 🙂

Damit es am Ende nicht zu entspannt wird, hat der Veranstalter aber noch zwei längere Anstiege vor die Abfahrt ans Meer gepackt. Und vor allem der vorletzte Anstieg bereitet einen schon einmal hochprozentig auf den Schampus im Ziel vor… Aber irgendwann sind auch diese letzten Prüfungen geschafft. In der zweiten Hälfte des letzten Anstiegs realisiere ich auch, dass eine Chance besteht das Rennen unter 30 Stunden zu finishen, wenn ich wieder voll auf Racemodus schalte. Ich hatte zwar in der Rennvorbereitung mit einer Sub-30h Zeit geliebäugelt, aber an der dritten Timestation aufgrund sinkender Durchschnittsgeschwindigkeit dieses Ziel ad acta gelegt. Zudem war die Strecke durch die Umleitung und den ein oder anderen unfreiwilligen Umweg aufgrund verpasster Abzweigungen auch von ursprünglich 775 avisierten Kilometern auf über 790 Kilometer angewachsen.

Jetzt rückt dieses Ziel wieder in greifbare Nähe und ich bereite mich darauf vor, vor allem auf den letzten 30km am Meer entlang zurück nach Silvi, die Position auf den Aerobars nicht mehr zu verlassen. Da es davor von 1.299m zum Meeresspiegel hinab nochmals richtig lange bergab geht, bleibt für die mentale Vorbereitung auch genug Zeit. Kurz wird es in der Abfahrt nochmals hektisch, als mein Navi ausgerechnet kurz vor einem Kreisverkehr mit mehreren Ausfahrten abstürzt. Ein Problem, dass bei Aufzeichnungen mit mehr als 600km nicht das erste Mal bei mir vorkommt. Da scheinen die Wahoo Produkttests die typischen Anforderungen im Ultracycling offensichtlich nicht abzudecken 😉 Also kurzer Zwangsstopp, um meine Komoot-Backuplösung auf dem Handy zu aktivieren. So fehlen in meiner digitalen Aufzeichnung des RAI ca. 20 Minuten diverse Werte wie Herzfrequenz, Trittfrequenz und Leistung. Aber es gibt sicher schlimmeres. Mit etwas Gefrickel kann ich am Ende die Aufzeichnung trotzdem wieder zu einer Fahrt zusammensetzen. Denn wie wir alle wissen: „If it‘s not on Strava it didn’t happen ;-).“:

Link to Strava Recording of the Race Across Italy

An der Küste angekommen zünde ich den Endspurt und es geht beflügelt vom näher rückenden Ziel nochmal richtig zur Sache. Der ein oder andere Italiener auf Rennradausfahrt wundert sich sicher, warum ein voll bepacktes Rennrad im Bikepackingsetup full speed ahead an ihm vorbeikachelt.

Am Ortsschild von Silvi realisiere ich so richtig, dass es gleich geschafft ist, und eine veritable Gänsehaut überzieht trotz der mediterranen Temperaturen meinen Körper. In Summe hätte es nicht besser laufen können. Platz 1 bei den Unsupported-Startern und eine Traumzeit wird im Ziel mit einem großartigen Empfang gekrönt. Die Crew des Veranstalters empfängt jeden Finisher mit Moderation, Applaus und einer würdigen Zielbühne. Ich bin überglücklich im Ziel zu sein und dem Veranstalter unglaublich dankbar, dass sie das Rennen trotz aller Widrigkeiten der Pandemie durchgeführt haben. Und damit allen Athleten nach langer Abstinenz wieder eine Bühne und Motivation für ihren Sport bieten.

Die Zieleinfahrt und ein kurzes Interview gibt es auch wieder im Video des RAI Mediateams:

Digestivo – Nach dem Rennen ist vor dem Essen

Ich freue mich, den besonderen Moment im Ziel auch mit meinem Vater teilen zu können, der meinen Rennfortschritt verfolgt hat und rechtzeitig zu meinem Zieleinlauf wieder zur Stelle ist. Nachdem meine Rennmaschine im Auto verstaut ist, geht es erst einmal zum nahegelegenen Pizzastand und im Anschluss ins Eiscafé, um die Regeneration professionell mit italienischen Spezialitäten einzuläuten.

Im Hotel angekommen wird das Auffüllen der Energiespeicher nach einer kurzen Dusche dann gleich beim Abendessen fortgesetzt. That’s why we ride. 😉

Ich lasse beim Abendessen das Rennen gemeinsam mit meinem Vater Revue passieren. Besonders erleichtert bin ich, dass sowohl meine Zerrung als auch die Brandblasen an den Füßen auf der langen Distanz keine ernst zu nehmenden Probleme bereitet haben. Nur Schmerzen an der Außenseite des Vorfußes, die ich sonst nicht habe, lassen vermuten, dass ich unbewusst versucht habe die Ballen etwas zu entlasten. Speziellen Dank an dieser Stelle auch nochmals an meinen Vater, der sich vor allem auf der Heimfahrt am Folgetag als riesige Unterstützung erweist und weite Teile der Fahrt am Steuer bestreitet. Vielen Dank auch an alle, die mich über die sozialen Kanäle aus der Ferne angefeuert haben – ihr seid spitze! Und zu guter Letzt natürlich auch ein besonderes Dankeschön an meine Frau und meine zwei Jungs, die es dem Papa erlaubt haben, den ersten „Urlaub“ nach langem Lockdown ohne sie anzutreten. Bevor wir uns am Sonntag um die Mittagszeit allerdings auf den Heimweg machen, findet noch die offizielle Siegerehrung statt. Dass diese stattfinden kann, freut mich besonders, da hier die Gelegenheit besteht sich mit den anderen Finishern des Rennens auszutauschen und gemeinsam das Erreichte zu feiern.

Nach dem Rennen ist bekanntlich vor dem Rennen. Und so kreisen nach einiger Zeit der Erholung das Training und die Gedanken im Sport schon wieder um das nächste Event, bei dem es mich wieder nach Italien ziehen wird. Beim Italy Divide geht es Anfang Juli mit dem MTB von Süd (Pompei) nach Nord (Nördlicher Gardasee) auf etwas rauerem Terrain wieder richtig zur Sache. Ich freue mich, dass ich auch dabei wieder auf Equipment meiner Unterstützer zählen kann. Danke an Witttraining, Orbea, Sponser, Wolfpack Tires, Apidura, Power2Max, Royal Bike Wear und Kask Helmets!

5 Kommentare zu „Race Across Italy 775 – La dolce vita dell Ultracycling – oder von Bären und Brunnen“

  1. Auweia, da hast du ja noch einige (selbstgebaute) Hürden übersprungen… 🙈😅
    Top-Leistung!

    Sag mal, wenn du doch unterwegs auf Pulver und Gels setzt, wo kommen dann die Ensure+ Fläschchen ins Spiel? Bzw. warum trinkst du die dann extra davor schon? Benötigst du das, um dich auf 30 Stunden „Zuckerwasser“ vorzubereiten? Oder hast du da doch auch ein paar davon in der Oberrohr-Tasche oder auch nur in den Turnbeuteln zum Verzehr direkt an der Timestation?

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    1. Hi Torsten, danke dir! Die Ensure vor dem Rennen trinke ich, um schon einmal den Magen-/Darmtrakt so vorzubereiten, dass nichts mehr da ist, was schwer/lang verdaulich ist. Deshalb stelle ich am Vortag dann komplett auf die Flüssignahrung um, um keine Ballaststoffe oder Fleisch usw. mehr zu mir zu nehmen. Damit stelle ich sicher, dass ich im Rennen keine langen Toilettenpausen benötige. Am Rad selbst habe ich nur in einer der zwei Trinkflaschen am Start Ensure dabei. Da man beim RAI an den Timestations auf eigene Verpflegung zurückgreifen konnte, hatte ich dort auch jeweils nochmals in einer der Austausflaschen Ensure. Pro Trinkflasche dann 2 Ensure, die ich mit Wasser verdünne. In der jeweils anderen Flasche habe ich ich dann noch Sponser Kohlenhydratpulver.

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